Nils Holgerson fliegt mit den Gänsen davon

„Nils Holgersons wunderbare Reise“ habe ich als Kind nie gelesen. Natürlich kenne ich die Geschichte, aber von dem gleichnamigen Zeichentrickfilm. Jetzt lese ich es mit den Buben und stelle fest, dass der Kinderfilm-Weichspüler-Effekt der Geschichte viel Großartiges genommen hat.

Das Sujet zunächst einmal wie aus einer Fallstudie von Jesper Juul: Aggressiver Teenager voller Hass und mit Hang zur Tierquälerei gerät zunehmend ins Abseits und erlebt nichts Positives mehr in Beziehung zu anderen Menschen. Die Mutter, chronisch überfordert, kann keine persönlichen Grenzen setzten, der Vater ist unnahbar und spielt die Rolle des gestrengen Erziehers.

Nils indes ist, nachdem er vom Wichtelmännchen in einen Däumling verzaubert wurde, hin und her gerissen zwischen der Angst ewig klein zu bleiben und der Freude darüber mit den Gänsen auf die Reise gehen zu können, sich aus dem „Mensch sein“ flüchten zu können. Es stellt sich als seine Rettung dar, dass er nunmehr in einer Gemeinschaft leben darf, in der er bestehen kann. Eine tierische Gemeinschaft, die auf Regeln beruht, die das Leben vorschreibt, ohne erzieherische Ansprüche. Und Nils entdeckt, dass er in dieser Gemeinschaft bestehen möchte. Dass, das, was ihn ausmacht, nämlich Tatkraft, Mut, Sturheit, Unbeirrbarkeit und ein gutes Herz, in den Dienst dieser Gemeinschaft gestellt, ihn zu einem geachteten und geliebten Mitglied in der Schar der Wildgänse werden lässt. Was nun im Detail auf der Reise geschieht mit Smirre, dem Fuchs, Sirle, dem Eichhörnchen, Herrn Emmerich, dem Storch und all den anderen, das findet ihr am besten selbst heraus.

Selma Lagerlöf, die als erste Frau den Literaturnobelpreis erhielt, lässt uns mit Nils Holgerson durch Schweden reisen und uns beobachten, wie der Junge seinen eigenen Kern wieder findet.Es berührt mich immer wieder, wie anders ich als Erwachsener so manche Kinderliteratur nunmehr wahrnehme. Wie viele Ebenen wirklich gute Geschichten haben können und was für ein Schatz sie sind. Nils Holgerson gehört auf alle Fälle in unsere Leseschatzkiste.

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Weil wir mit unseren Figuren immer eine Zeitlang leben, uns so manches Ende eines Buches und der Abschied von den Protagonisten auch ein bisschen schwerfällt, versuchen wir uns immer noch ein bisschen mehr vom Buch in unser Leben zu ziehen. Da wird schon mal das Kleine Gespenst gebastelt oder mit Karlson vom Dach Zimtwecken gebacken, oder im Zuge unserer derzeitigen Stempelliebe ein Nils-Holgerson-Stempel für ein Lesezeichen geschnitzt.

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